Es gibt
eine einfache, praktisch umsetzbare Strategie-Methode zur Entwicklung von
Alleinstellungsmerkmalen: Die Value Curve. Hier
lesen Sie, wie man sie Schritt für Schritt angewenden kann. Dazu verwenden wir
ein Echtbeispiel.
Die Value Curve ist ein Käufernutzen-Profil. Man gewinnt damit durch Weglassen,
Verändern oder Hinzufügen von Produkteigenschaften ein neues Profil. Dieses soll
für eine neue Zielgruppe attraktiv und konkurrenzlos sein. Auf Deutsch: Wir
wollen ein Produkt für eine neue Zielgruppe attraktiv machen. Wie gibt man ihm
auffällig andere Eigenschaften passend zum Bedarf der Zielgruppe?
Wichtig: Das Profil zeigt, auf welche Produkteigenschaft man seine Energie
fokussiert. Ein geringer Wert beim Preis sagt also nicht, das Produkt sei
billig. Es sagt:
Preiskampf und Einsparungen, wo immer es geht, stehen nicht im Mittelpunkt.
Geringe Anstrengungen beim Preis heißt dann oft: Ein eher teures Produkt...
Unser Echt-Beispiel
In diesem Beispiel betrachten wir ein alltägliches Produkt, das jeder kennt:
Einen Nistkasten für Singvögel. Langweilig, denkt man im ersten Moment. Doch die
Strategie der Value Curve kann auch in langweiligen Märkten
bahnbrechend Neues schaffen. Also los: Gehen wir das Produkt mit der Value
Curve an.
Welche Nutzen-Profile sind auf dem Markt?
Auch bei einem Nistkasten interessieren den Kunden mehrere
Eigenschaften. Mehrere dieser
Produkteigenschaften sind für unterschiedliche
Zielgruppen als Kaufkriterium unterschiedlich attraktiv. Dem Einen ist
vielleicht der Preis das Wichtigste. Den Anderen interessiert das Design und dem
Dritten der
Nutzwert für die Singvögel.
Schritt 1: Bestehende Profile erkennen
Wir identifizieren zunächst Produkteigenschaften und Profile, die das Angebot auf
dem Markt bestimmen. Das Produkt Nistkasten eignet sich gut als Beispiel. Es
gibt ein äußerst vielfältiges Angebot und viele Marktteilnehmer.
Hier sind vier Profile, die man schnell entdeckt:
Profil 1: Das Baumarkt-Angebot
Im Baumarkt ohne genaueres Nachdenken ein preiswertes, aber auch einigermaßen
praxistaugliches Produkt mitnehmen: Dafür gibt es Nistkästen, die sich in keiner
Eigenschaft positiv oder negativ hervorheben.
Der Baumarkt strengt sich an beim Preis. Seine Produkte müssen gut aussehen. Der
Raubtierschutz muss zumindest einen brauchbaren Eindruck machen. Eine
gewisse Wirtschaftlichkeit und Haltbarkeit ist in einem Baumarkt Pflicht. Die
Interessen der Vögel und der Natur sind dagegen kein Kaufargument.
Profil 2: Das Vogelschützer-Angebot
Hier geht es nicht um Gartendekoration. Der eigentliche Zweck des Nistkastens
steht im Mittelpunkt. Das Produkt darf etwas teurer sein. Die Kunden stuft der
Hersteller als zahlungswillige Idealisten ein.
Extrem wichtig ist hier der Raubtierschutz bis hin zum Drahtverhau gegen Marder.
Das Design im Sinne der Anpassung an eine vielfältige Vogelwelt ist wichtig. Sie
führt sogar zu stark übertriebenen Bauform-Unterschieden.
Profil 3: Der Deko-Artikel
Schnell gekauft und schön anzusehen sind Nistkästen zu reinen
Deko-Zwecken. Bewohnt sind sie selten. Selbst Mindestanforderungen an
den Schutz der Jungvögel werden ignoriert.
Mangels Alternativen nutzen verzweifelt suchende Vogeleltern manchmal sogar
solche Pseudo-Nistkästen. Die Value-Curve betrachtet das aber nicht. Es geht
darum, auf welche
Produkteigenschaften der Fokus gerichtet wird. Der Anbieter konzentriert sich
hier vollkommen auf seine Design-Idee. Auch der Preis spielt nur eine völlig
nachgeordnete Rolle.
Profil 4: Der Profi-Nistkasten
Möglichst ewig haltbar sind Nistkästen für den
professionellen Einsatz in Forst- und Landwirtschaft. Oft bestehen sie aus
holzhaltigem Beton.
Der Bruterfolg der Vögel, also in erster Linie der Raubtierschutz, ist hier
wichtig. Es darf eine Festung aus Beton sein, die man da in seinen Obstgarten
hängt. Schließlich geht es darum, dass die
Bewohner für den Besitzer Schädlinge beseitigen sollen. Sonst steht aber die
wirtschaftliche Seite im Mittelpunkt. Der Nistkasten ist hier ein
"Produktionsmittel". Er muss preiswert und haltbar sein.
Schritt 2: Das Anwendungsgebiet abstecken
Natürlich bietet ein solcher Markt viele Nischenangebote und weitere
kaufrelevante Eigenschaften. Das Prestige wäre so ein Beispiel. Im gepflegten
Garten wird gerne ein schön gezimmerter Nistkasten exponiert vorgezeigt. Diese
und andere Eigenschaften lassen wir der Einfachheit wegen unbeachtet.
Das Verfahren, das wir gerade durchführen, dient einerseits dem Auffinden solcher
Nischen. Jetzt ist die Übersicht
geschaffen. Es tut gut, wenn man nun nochmal klar benennt, was man sucht:
Wir wollen z. B. keine Sonderfälle für Fledermäuse, Bilche, Eisvögel oder
Gartenbaumläufer. Wir betrachten nur die Brutkästen für die große Mehrheit der
heimischen, höhlenbrütenden Singvögel.
Schritt 3: Ein neues Profil
Die entscheidende Frage ist aber nun: Wenn wir die aufgezählten
Produkteigenschaften als Grundlage nehmen: Könnte man daraus ein neues Profil
entwickeln? Wie könnten wir unsere Anstrengungen auf die einzelnen
Produkteigenschaften sinnvoll anders verteilen?
Eigenschaften verschlechtern, verbessern, wegnehmen oder hinzufügen
Als Value Curve bezeichnet man nicht nur die Kurve, sondern dieses Denkschema:
Wir lenken etwa mehr Aufmerksamkeit und Kräfte auf den Preis. Dafür lassen wir
den Naturschutz ein wenig außer Acht. Oder wir fügen ganz neue Eigenschaften
hinzu wie eine Webcam zum Beobachten der Jungvögel.
Prestigegewinn als Naturschützer oder das Weglassen der "künstlerischen
Gestaltung", sind allerdings nicht gemeint. Das sind Eigenschaften, die einfach
da sind. "Hinzufügen" meint Eigenschaften, die Nistkästen normalerweise nicht
haben. Die genannte Webcam wäre so eine neue Eigenschaft. "Wegnehmen" meint eher
Eigenschaften, die als selbstverständlich angenommen werden.
Ein Produkt hat Eigenschaften wie Langlebigkeit, Wartbarkeit, einfache Entsorgung
etc. Das ist unabhängig davon, ob wir sie in unserem Profil tatsächlich
würdigen. Das
Entscheidende am Hinzufügen oder Wegnehmen ist etwas Anderes: Wir geben oder
nehmen einer Eigenschaft
Kaufrelevanz. Nur ein Bruchteil der
potentiellen Käufer macht sich Gedanken um die Entsorgung eines
Nistkastens. Über Teerpappe und Nägel denkt niemand nach,
solange keine sichtbare Alternative existiert. Und genau da, bei neuen
"sichtbaren Alternativen", liegt der Wert der Value Curve.
Das Echt-Beispiel
Die vorgestellten Profile habe ich vor Jahren für ein
Strategieseminar vorbereitet. Damals war das noch eine
Balkengraphik. Im Seminar habe ich dann, noch ohne
Produktidee, das folgende, neue Profil vorgeschlagen:
Die generelle Nachhaltigkeit als Produkteigenschaft war bisher bei Nistkästen
nicht gefragt. Obwohl es um Naturschutz geht, macht sich bei so
einem Produkt niemand Gedanken. Egal wieviele Nägel, Schrauben, Leim
oder Teerpappe verarbeitet werden. Es ist ja trotzdem für den Naturschutz
gedacht.
Im Sinne der Value Curve Methode habe ich also eine neue Produkteigenschaft
benannt. Da ist die Öko-Bilanz und Nachhaltigkeit. Das Profil sollte
kompromisslos den
Natur- und
Vogelschutz bevorzugen. Andere Eigenschaften wie Design, Haltbarkeit oder der
mögliche Verkaufspreis etc. wird nur gefördert im Rahmen des dann noch
Möglichen.
Die Idee ist also eine Spezialisierung wie bei der Deko-Variante: Das neue Profil
steht nur die Natur im Mittelpunkt und alles Weitere ist zweitrangig.
Schritt 4: Produktvorgaben
Ein Profil ist noch lange kein Produkt. Aber es bietet jetzt die Möglichkeit,
Produkteigenschaften auszuloten. Wie weit kann man denn tatsächlich ein solches
Profil in ein konkretes Produkt umsetzen?
Der Extremfall von Nachhaltigkeit wäre ein Nistkasten nur aus Holz. Ok,
vielleicht noch eine Hanfschnur zum Aufhängen. Aber jedenfalls keine Nägel,
keine Schrauben und keine Klammern. Natürlich auch kein Plastik und kein Zement,
kein Leim, kein Holzschutzmittel und keine Farbe. Der Nistkasten sollte aus
nichts außer Holz bestehen. Geht das?
Das neue Profil macht jedenfalls Sinn. Schwer zu sagen, ob sich so ein Produkt
verkauft. Es wird nicht so aussehen, wie man es gewohnt ist. Vielleicht kostet
es zu viel oder hat andere Nachteile. Aber Naturschutz sollte gerade für
Naturschützer doch ein gutes Kaufargument sein.
Das entstandene Profil gibt schon perfekt die Richtung vor. Wie könnte unser
Nistkasten aussehen, wenn er all diese Vorgaben erfüllen soll? Egal ob einfach
oder schwierig. Wir lenken unsere Anstrengungen genau in die vorgegebene Richtung.
Man findet irgendwann ein passendes Produkt.
Schritt 6: Die entscheidende Frage stellen
Spätestens wenn das Produkt fertig ist, erscheint es uns einfach. Da hätte man
längst drauf kommen können. Und tatsächlich ist das die entscheidende Frage, die
man beantworten sollte, bevor man weitermacht: Warum gibt es dieses Produkt
nicht schon längst? Ist es illegal? Oder zu schwer zu fertigen? Oder zu teuer?
Oder liegt es wirklich nur daran, dass es noch niemand probiert hat?
Sie sehen das Beispielprodukt abgebildet. Ein so einfaches Design muss doch einen
Haken haben. Oder?
Tatsächlich erklärten mir gleich mehrere Befragte, das wäre gar nicht machbar.
Aber da war der Prototyp schon fertig. Und sind andere Nistkästen wirklich
schöner? Mag
sein, aber genau das ist ja gerade der Witz an der Value Curve: Wir
konzentrieren unsere Anstrengungen auf ein gewünschtes Profil an
Produkteigenschaften. Das geht immer auch ein wenig zu Lasten anderer Dinge.
Klar ist, dass ein Naturprodukt nicht so lange halten wird, wie
ein Beton-Nistkasten. Es ist schwerer und bildet oft große Risse und Spalten.
Den Vögeln scheinen selbst große Risse egal zu sein. Dem
menschlichen Kunden sind schon kleine Risse schwer vermittelbar.
Ist "reine Natur" also ein ausreichend wirksames Kaufargument?
Das neue Profil muss nicht genau so aussehen,
wie es zunächst erdacht worden war. In der Produktentwicklung können sich
Entwicklungsrichtungen noch immer
verschieben. Der nächste Schritt also: Das tatsächliche
neue Profil aufbauen.
Unerwartete marktrelevante Eigenschaften
Ein neues Produkt kann weitere wichtige Eigenschaften haben, an die man
zuvor nicht dachte. In unserem Echtbeispiel wäre das Gewicht so
eine Eigenschaft. Niemand denkt bei einem Nistkasten an das Gewicht. Doch das
neue Pure Nature Birdhouse hat viel Material und ist schwer. So gut das für die
Bewohner sein mag: Das macht es teurer als Versandprodukt. Es ist unhandlich für
"zarte Frauenhände" und ältere Menschen.
Das Gewicht ist also eine neue marktrelevante Produkteigenschaft. Im
Sprachgebrauch der Value Curve gehört sie unter "Hinzufügen". Es ist egal, ob
uns das nun gefällt oder nicht.
Nach Zielgruppe bewerten
Eine erhebliche Rissbildung kommt bei einem Naturprodukt weniger überraschend.
Doch wie bewertet man diese Eigenschaft? Es zeigt sich:
Den Vögeln sind diese Risse, selbst sehr breite Spalten, mehr oder weniger egal.
Für den Bruterfolg spielen sie keine Rolle.
Für den Menschen sehen sie dagegen furchtbar aus. Die Zielgruppe sind aber nicht
die Singvögel, sondern die menschlichen Käufer. Daher gehören sie, mit
schlechter Bewertung, zu den neuen Eigenschaften.
Vermutete Eigenschaften
Es können sich auch positive Eigenschaften ergeben, die man
so nicht erwartet hatte. Die "Bevorzugung durch die Vögel" könnte so
eine neue positive Eigenschaft sein. Unsere Beobachtungen legen nahe, dass
manche Vögel Nistkästen bevorzugen, die echten Bäumen ähneln. (Bei
manchen Arten wie z. B. dem Wiedehopf, gilt das als wissenschaftlich
belegt)
Das zeigt einen weiteren Gesichtspunkt aus der Praxis der Value Curve: Wir haben
hier eine wichtige Eigenschaft mit Marktrelevanz. In der Entwicklungsphase
können wir sie nur vermuten, aber nicht belegen. Versuche im eigenen Garten
mögen ein guter Hinweis sein, ein Beweis sind sie nicht. In der angestrebten
Kernzielgruppe der Naturschützer ist die Eigenschaft wichtig. Sie könnte sich
als gutes Kaufargument erweisen. In unsere Value Curve und unsere
Überlegungen nehmen wir sie selbstverständlich auf. Ob man daraus unseriöse
Werbesprüche macht, ist eine andere Frage.
Schritt 8: Zielgruppe und Werbeargumente
Nun sind wir also bei der Markteinführung angelangt. Aus einer Value Curve
ergeben sich Zielgruppen und Werbeargumente fast von alleine: Wir sprechen
Menschen an, die mehr als nur oberflächlich an Naturschutz interessiert sind. Deshalb
heben wir genau diese Vorteile hervor: Die Herstellung ist perfekt nachhaltig aus
nachwachsendem Rohstoff. Die Bedingungen für die brütenden Vögel und
ihre Kinder sind einzigartig gut.
Das Produkt ist weit schwieriger zu fertigen, als es auf den ersten Blick
aussieht. Aber es existiert und kann (in kleinen Stückzahlen) bestellt werden.
Mehr zum Pure
Nature Birdhouse
Fazit
Die Value Curve ist ein praktikables Werkzeug. Sie ist bei der Produktentwicklung
tatsächlich hilfreich. Die Zusammenhänge verdeutlicht sie gut. Ihre Einfachheit mag
der realen Welt nicht gerecht werden. Aber ohne Einfachheit wären neue
Produktideen chancenlos.